Antifa Debatte – Ein weiterer Beitrag und Textsammlung (PDF)
Wir haben die “Antifa-Debatte” zum Anlass genommen, um eine Broschüre zu erstellen, in der alle bisher dazu auf Indymedia veröffentlichten Beiträge versammelt sind. Zusätzlich wollen wir den folgenden Text, den wir ergänzend als “Einführung in die Debatte” geschrieben haben, ebenfalls veröffentlichen. Das Heft kann gerne nachgedruckt werden und hängt dafür als PDF-Dokument im Anhang dieses Textes. In den kommenden Wochen wird die Broschüre mindestens in Leipzig auch gedruckt bereit liegen und verteilt werden.
Hier findet ihr eine Auflistung der bisherigen Debattenbeiträge:
- Zeit zu Handeln – Aufruf – Zeit zu Handeln Bündnis
- Antifa: denken und handeln! – Antifas aus Ostdeutschland
- Anmerkung zu dem Kommentar von “Ostdeutsche Antifas” zu “Zeit zu Handeln” – Antifas aus NRW
- Anmerkung zur Anmerkung von „NRW- Antifas“ zu „Antifa: denken und handeln!“ – Andere Antifas aus Ostdeutschland
- Eine marxistische Verteidigung des „Aufrufs“ -Josèphine Babeufs
- Fröhlich in den Untergang – Antwort auf Josèphine Babeufs Antifas aus Ostdeutschland
“Einführung in die Debatte”
In diesem Sommer ist durch den Aufruf „Zeit zu handeln“ einiger westdeutscher Antifagruppen und der NEA aus (Ost-)Berlin eine Debatte über die aktuelle Lage rund um die Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg sowie die allgemeine Verfasstheit der antifaschistischen Bewegung entstanden. Wir halten die Debatte für richtig und wichtig und sehen sie als Voraussetzung für unsere eigene Politik an. Dabei teilen wir nicht nur die Kritik der „Ostdeutschen Antifas“, sondern fühlen uns mit den Gedanken unserer Genoss:innen besonders verbunden. Des Weiteren denken wir ebenfalls, dass die Uhr nicht auf 5 vor 12 steht, sondern die Geisterstunde längst geschlagen hat und nun die von der bürgerlichen Gesellschaft totgeglaubten Gespenster der Vergangenheit – die faschistischen Bewegungen weltweit – quicklebendig sind und versuchen, nach der Macht zu greifen. Dies müssen sie allerdings derzeit noch gegen die Mehrheit der Bevölkerung und große Teile des deutschen Kapitals voranbringen. Die Bedrohung des Faschismus ist jedoch nicht einzelnen Akteuren wie der AfD zuzuschreiben. Eine Analyse muss über die oberflächlichen Erscheinungen hinausgehen, sich in ihren Gegenstand vertiefen und nachvollziehen, welche gesellschaftlichen Kräfte derzeit wirken. Allerdings zeigt sich – auch in der Antifa-Debatte – etwas Allgemeines, nämlich eine Art Stillstand des Denkens. Wichtig, so scheint es, ist nicht mehr die kritische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, mit dem Ziel, diese verstehen und verändern zu können, sondern ein abgestumpftes und zwanghaftes „Weiter So“.
Die Bürgerlichen
Schon Anfang dieses Jahres wollten die bürgerlichen Großdemonstrationen ein solches „Weiter So“ vermitteln. Die Menschen gingen auf die Straße, aus Empörung vor dem schlimmeren Morgen, das so nahe am Heute ist, dass die kollektive Verdrängungsleistung nicht mehr ausreichte, ihre eigene Geschichte zu bändigen. Das aus der bürgerlichen Gesellschaft erst entstehende Grauen der faschistischen Bewegungen und ihrer faktischen Regime drängt sich denen auf, die nicht bereit sind, die willkürliche Vernichtung hinzunehmen oder mit vermeintlicher Stärke über diese Bedrohung hinwegzutäuschen. Denn das Tabuisieren der Faschisten bedeutet eben, ihre Voraussetzungen nicht verstehen zu können. Das Tabu zielt darauf ab, dass faktisch Vorhandene aus dem eigenen Denken und Geworden-Sein aus der Welt auszuschließen. Es darf nicht benannt werden, wird aus dem Selbst ausgeschlossen, um der Furcht nicht zu erliegen, als Fremdes gesetzt und so der kritischen Erkenntnis entzogen. Die Bürgerlichen zeigen mit den Fingern auf die Anderen, doch ihre eigene Zurichtung und das stets vorhandene Potenzial der Massen zum Pogrom werden verkannt. Die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft bedeuten schon heute für viele das reale Grauen. Deswegen bedeutet ein „Weiter So“ nicht nur die eigene Unfähigkeit zur Reflexion zu fixieren, sondern auch eine Zustimmung für das falsche Ganze. Aber der Schrecken, der von jenen ausgeht, die sich offen lossagen von der Vernunft und die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit über Bord zu werfen bereit sind, bedeutet einen qualitativen Unterschied zum Bestehenden. Daher war es richtig, Anfang dieses Jahres mit auf die Straße zu gehen gegen die Selektionspläne der AfD, jedoch in einer kritischen Distanz zum Gestus aus Empörung und vermeintlicher Menschenliebe der bürgerlichen Mitdemonstrierenden. Der Antrieb, so scheint es, war für viele der Teilnehmenden ein Arrangement mit der eigenen misslichen Lage und zugleich ein Zeichen des Mitgefühls. Denn ein „Weiter So“ ist immerhin nicht der sich formierende Faschismus. Die Reste der Zivilgesellschaft erledigen dabei eben jene Aufgabe, die ihnen schon immer zufiel, nämlich die blinde Verteidigung des Status Quo. Die in diesem Winter gemeinsam vorgetragenen Ständchen sind die Überreste des Aufstandes der Anständigen und das bürgerliche „Weiter So“ entspricht der Art ihrer Arbeitsorganisation. Die Einzelnen wissen nichts über die niemals enden wollende Produktion von Gütern, die trotz ihrer „schier unendlichen“ Masse einen so großen Teil der Menschen unbefriedigt zurücklässt. Die Form des Denkens entspricht und entspringt dabei der Produktionsform, doch entfaltet sie darüber hinaus ihre eigene Qualität.
Die Antifa
Die Stoßrichtung des „Zeit zu handeln“-Aufrufs, der Anmerkungen der Antifas aus NRW sowie die marxistische Verteidigung des ursprünglichen Aufrufs von Joséphine Babeuf gegen die Kritik der Ostdeutschen Antifas, mit ihrem „Jetzt“, „Schließt euch zusammen“ oder „Folgt uns“, gleicht dabei dem „Weiter So“ der bürgerlichen Großdemonstrationen Anfang des Jahres 2024. Dabei gehen diese aber nicht ineinander auf. Versucht die marxistische Verteidigung noch eine inhaltliche Bestimmung anhand der marxschen Kritik der politischen Ökonomie darzustellen, so setzen die anderen beiden Texte Phrasen an die Stelle der Bestimmung des Problems und verzichten gänzlich auf Reflexion und Kritik. Am Ende steht auf der einen Seite die avantgardistische und auf der anderen die unreflektierte Darstellung einer Zukunftsvision. Sie entsprechen dabei dem „Weiter So“ der bürgerlichen Gesellschaft, die immer ein „Jetzt“ kennt, aber keine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte und dem Geworden-Sein der Dinge. Die Einen, ganz Lenin folgend, setzen auf Gehorsam und Selbstzwang und verkennen dabei die Partikularität des marxistischen Versuchs, die Wirklichkeit zu erfassen. Dabei betreiben sie eine ökonomistische Reduktion der marxschen Dialektik und erkennen im Proletariat immer noch das revolutionäre Subjekt, welches es vielleicht in seinen Anfängen noch zu sein vermochte, aber heute keinerlei Anzeichen für die nötige Bildung eines Klassenbewusstsein – sprich autonomen Selbstbewusstsein – aufzeigt. Der Fokus liegt bei der Analyse dabei auf dem Problem der Ausbeutung. Gänzlich unbeachtet bleiben die Konsequenzen, welche die Auseinandersetzung von Lukács über Kritische Theorie hin zur neuen Marx-Lektüre um den Begriff des Werts und der Nachvollzug seiner Formanalyse ergab. Die Fortsetzung des herrschaftlichen Denkens, gesetzt durch die Idee des Selbstzwangs und der Disziplin, führte in der Geschichte unter denen, auf die sich das avantgardistische Politikverständnis des Textes von Joséphine Babeuf bezieht, zu den stalinistischen Schauprozessen. Wird der Umstand für die Möglichkeit von Faschismus und Stalinismus nicht in die Reflexion des eigenen Denkens aufgenommen, scheint kein Bruch mit dem Bisherigen möglich. So wird sich keine wirkliche revolutionäre Umwälzung der Verhältnisse einstellen, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ mehr ist.
Die Partikularität der modernen Wissenschaften folgt einer Logik, die immer nur das erfassen kann, was schon vorher bekannt war. Das Fremde wird dem bestehenden Denken einverleibt, verliert dadurch seine Autonomie und wird zum schon Gewesenen. Aber eine Revolution, in der die Menschen eine gemeinsame und vernünftige Form des bewussten Umgangs miteinander und mit der Natur praktisch verwirklichen, braucht eine Kritik des Partikularen, dessen Verwirklichung universell zu sein in der Lage wäre, als ihren Anfang. Dieser Anfang ist eben nicht einfach das Proletariat, sondern der Zusammenschluss der vereinzelten Einzelnen unter Voraussetzung der Reflexion und Kritik der bürgerlichen Gesellschaft, in dem Wissen um ihr Geworden-Sein und die Bedingungen ihres Scheiterns, unabhängig ihrer gesellschaftlichen Lage. Dabei ist diese anfängliche Setzung keine willkürliche, sondern entspringt dem Wunsch nach einem anderen Morgen. Es ist die Kritik der herrschenden Denkform und Ideologien sowie ihrer materiellen Voraussetzungen. Diese Kritik kann keine statische sein, denn die Veränderungen in den Erscheinungsformen faschistischer Bewegungen führen dazu, dass die Theorie, soll sie das Zutreffende wirklich abbilden, immer aufs Neue vollzogen werden muss. Der Vollzug, die Arbeit am Begriff und die Bestimmung der Wirklichkeit, mit dem Ziel sie verändern zu können, sind ebenso partikular; eben geknüpft an den jeweilig konkreten (Nach-)Vollzug durch die Einzelnen. Eine Avantgarde-Theorie aber versucht, dieses Problem zu umgehen, und bedarf deswegen der Propaganda und Manipulation. Sie belässt ihre Anhängerschaft, die um ihre Abhängigkeit nicht wissen mag, in Scheinselbständigkeit. Wie sich dabei aber das von der „marxistischen Verteidigung“ geforderte Klassenbewusstsein entfalten soll, bleibt der Phantasie der ML‘er überlassen. Mangelt es doch an einer Erklärung, wie aus der Methode der Manipulation ein kritisches Ich sich entfalten und gemeinsam mit anderen organisieren soll. Die wahnhaften Züge innerhalb der aktuellen K-Gruppen zeigen dabei ohnehin an, dass nicht einmal die Avantgarde diesen kritischen Reflexionsprozess vollzogen hat, das Klassenbewusstsein also nicht einmal bei denen, die es vermitteln wollen, in Grundzügen entfaltet ist. Mit ihren selbstgeglaubten, einfachen Antworten zielen die neuen K-Grüppchen, auf jene, welche von den Bedingungen des Faschismus nichts wissen wollen. Sie teilen dabei die Starrheit ihres Denkens, das sich vorgefertigt über die Dinge legt, anstatt diese sprechen und somit in Bewegung kommen zu lassen, mit den bürgerlichen Kräften. Sie bekämpfen die Faschisten nur insofern, als dass sie ihnen die Anhängerschaft streitig machen wollen. Denn das Einzige was ihnen nach ihrer eigenen „Analyse“ fehlt, ist eine Gefolgschaft. Die Qualität einer spezifischen historischen Situation braucht nach diesem Denken eben keine weiteren Erklärungen.
So stehen wir derzeit umstellt von den Bürgerlichen, von denen, die Theorie nicht als Teil einer politischen Praxis betrachten, und jenen, die in Hamas und Co. einen politischen Verbündeten erkennen, auf Demonstrationen. Ob diese dabei organisiert sind aus der Zivilgesellschaft, nur getarnt als solche, oder aus Autonomem und linksradikalen Strukturen, ist egal. Überall, so scheint es, weiß man genau, was zu tun ist. Der Fehler liegt immer bei denen, die einfach nicht hören wollen, den Unmoralischen und Unreflektierten, oder aber an der Finesse der faschistischen Demagogen und ihrer Strategien. Der Zusammenhang zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Faschismus bleibt dabei allen gleichermaßen verdunkelt. Werfen doch alle immer wieder nur ein kleines Licht auf das, dessen Erhellung seine Bekämpfung erst ermöglichen würde.
Wir führen die Auseinandersetzung über den Faschismus und seine Grundlagen nicht um ihrer Selbstwillen, sondern für das Leben (https://knack.news/10044). Und wir führen sie nicht mit irgendjemandem, sondern mit denen, die im Faschismus, so unscharf der Begriff von ihm aktuell auch sein mag, eine drohende Gefahr sehen. Gerade deshalb versuchen wir durch die Kritik derer, mit denen wir schon demonstrieren, etwas über den Gegenstand zu formulieren, dessen Bekämpfung seiner Kenntnis bedarf. Denn die Verwirklichung einer Gesellschaft, in der der Einzelne nicht mehr Angst haben muss, unterzugehen im Bekannten, um den Preis seiner eigenen Bedeutungslosigkeit und Ersetzbarkeit, ist die Aufgabe einer antifaschistischen Praxis. Da die Möglichkeit der Vernichtung um der Vernichtung willen ein Teil der Geschichte ist, drängt kritische Reflexion darauf, die Geschichte, die bisher nicht von und durch den Menschen, sondern über ihn sich vollzieht, selbst zu schreiben. Es ist eine Aufgabe, die erst ein noch zu verwirklichendes revolutionäres Projekt in der Lage wäre zu vollziehen. Die Bestimmung der Revolution ist nur durch ihre, sie praktisch vollziehenden, Subjekte zu haben, aber niemals einfach so, wie der „Zeit zu handeln“- Text, die Antwort aus NRW und die marxistisch-leninistische Verteidigung, es glauben, umsetzen zu können. Dennoch, den Faschisten Einhalt zu gebieten, ist alternativlos. Auch darüber ist die Debatte zu führen und die Auseinandersetzungen sind nicht zu scheuen. Weder die Auseinandersetzung um die Straße gegen die faschistischen Schläger noch die kritische Auseinandersetzung mit jenen, mit denen wir bereit sind, gemeinsam das Schlimmere zu verhindern. Doch auch das nicht um jeden Preis.
Die Probleme
Der sich hier einstellende Widerspruch ist eben jener der bürgerlichen Gesellschaft. Der Verwirklichung ihrer Ideale nicht fähig gewesen und blind für die Ursachen ihres Verderbens, muss die Geschichte, die sie sich selber erzählt, ein immer größeres Gebäude aus Institutionen, der Verwaltung, und der Kulturindustrie errichten. Autonomie ist nur insofern ihre Voraussetzungen, als dass sie freie – damit gemeint ist, frei von Produktionsmitteln und deshalb dazu bestimmt, die Ware Arbeitskraft verkaufen zu müssen – Einzelne benötigt, die aber in der Realität immer wieder an den versachlichten Herrschaftsverhältnissen scheitern müssen, somit immer wieder die eigenen Ohnmacht zu spüren bekommen und im Anschluss mit noch mehr Härte ihre Scheinautonomie aufrechterhalten müssen. Der Widerspruch zwischen der Idee und den realen Bedingungen ist nicht in eine Richtung, im Sinne einer emanzipatorischen Bewegung, aufzulösen, sondern nur negativ, durch seine Kritik und der sich daraus ergebenen Praxis. Die aktuellen Aussichten deuten allerdings eher auf eine Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft in einem anderen negativen Sinne hin. Die realen Bedingungen setzen die Faschisten dabei als ihr Ideal. Die Wertlosigkeit und Austauschbarkeit – die reale Erfahrung der Einzelnen für und an sich – vergötzen die Faschisten zu ihrer Losung. Die blinde Gewalt des Marktes gleicht den Vernichtungsphantasien der Faschisten. Der Technik, die selber blind für ihren Zweck ist, ist es egal, wofür sie angewandt wird. Die Faschisten selbst fürchten und vergöttern den Tod. Das Leben, die Bewegung und die Unbestimmtheit sind ihre Dämonen, die sie zu töten bereit sind. Die Möglichkeiten zur Selbst- und Weltvernichtung liegen bereit. Die bürgerliche Gesellschaft aber ringt noch mit sich selber. Die faschistische Bewegung ist noch nicht stark genug, um die Macht zu ergreifen oder von ihr Gebrauch zu machen. Doch die Lösungsansätze zum Selbsterhalt der bürgerlichen Gesellschaft fallen immer weiter hinter ihre eigene Bestimmung zurück.
Wer schon glaubt, genau darüber Bescheid zu wissen, was zu tun wäre, der stellt sein Denken still. Denn nichts anderes heißt es ja, genau zu wissen, was zu tun ist. Die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit wird aufgegeben für eine Vorstellung darüber, was eigentlich erst zu begreifen wäre. Die Praxis, die daraus folgt, ist also eine unorganisierte. Sie ist ein Zusammenschluss von Unwissenden, die gemeinsam das tun, von dem sie meinen, es sei das Richtige. Dieses positiv bestimmte, richtige Tun kann, wenn es eben nicht auf Kritik und Reflexion sich mehr bezieht, aber nur das „Weiter So“ sein. Die Fortführung des Bestehenden bietet keinen Ausweg aus der bürgerlichen Gesellschaft, die zum Scheitern verurteilt ist. Dieses Scheitern droht aber gerade dazu zu führen, dass eben jener Stillstand des Denkens in eine Bewegung umschlägt, hin zu dem, was wir als Faschismus versuchen zu begreifen. Es geht darum, in Bewegung zu kommen. Wir sehen die Voraussetzung für diese Bewegung in der Kritik von dem, was wir aus dem realen Leiden als Falsches ausfindig machen. Leiden ist dabei zwar die gemeinsame Zurichtung aller in dieser Gesellschaft und somit etwas Objektives; zugleich aber wird es individuell erfahren. Hierbei geht es nicht um biografisch persönliche Schicksalsschläge, sondern um das gesellschaftlich produzierte Elend, das sich in den Denkformen und Begehrensstrukturen der Einzelnen einschreibt. Wird dieses Leiden einfach aus dem Mangel des einzelnen Menschen verklärt, wird dieser Vergesellschaftungsprozess gedanklich und einseitig aufgelöst. Das Denken verharrt im bürgerlichen Bewusstsein. Nun sind es nicht mehr die Verhältnisse (das Sein), sondern die Einzelnen (ihr Bewusstsein), die verantwortlich gemacht werden für den schlechten Zustand der Welt – und Schuld sind bekanntlich immer die anderen. Erklären lässt sich dadurch aber nicht, wieso die Einzelnen weiterhin teilnehmen an einer Gesellschaft, die Mangel erzeugt, wo keiner sein müsste. Erfahrenes Leid innerhalb des falschen Ganzen (Verblendungszusammenhang) produziert eben nicht automatisch einen Wunsch nach etwas Anderem. Der kritische Nachvollzug der eigenen Leidensfahrung, der von einem gesellschaftlich produzierten und nicht individuellen Mangel ausgeht, eröffnet erst die Möglichkeit die Verkehrung von Subjekt und Objekt – Gesellschaft und Individuum – zu durchbrechen. Die Objekthaftigkeit der Einzelnen gerät dabei in den Blick der Kritik, anstatt einer abstrakten Vorstellung über die Welt zu folgen, die sich blind macht für ihre Bedingungen. Nicht das Plattbügeln der eigenen Zurichtung, sondern deren Nachvollzug sind Bedingungen für eine Bewegung, die die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen kann – und mit ihr die Einzelnen. Zuweilen scheint das kritische Bewusstsein so wenig entfaltet, dass die Einzelnen – in ihrer Unwissenheit – lieber weiter Regentänze aufführen und hoffen durch ihre Kreativität, Anstrengung und choreografisch einstudierte Praxis, das Unverstandene zu verändern. Die notwendige Praxis wird zum Fetisch degradiert. Sie bleibt unbegriffen. Wie von Zauberhand soll sie ganz automatisch das Bewusstsein derer verändern, die in diesem Denken gar nicht mehr vorkommen. Im Mittelpunkt steht wieder nicht der:die Einzelne sondern eine, sich hinter dem Rücken der Menschen vollziehende, gesellschaftliche Praxis, die die einzelnen gefangen hält in ihrer Unwissenheit. Indem vorausgesetzt wird, dass Individuum und Autonomie schon realisierbar sind, wird dem bürgerlichen Bewusstsein entsprochen. Dessen Bedingungen aber bleiben unberührt. Erfahrung alleine kann nur der Ausgangspunkt, nicht aber die politische Formel für unseren Widerstand sein. Sie treibt die Erniedrigten nicht einfach zur Erkenntnis, sondern in den Wahn. Gleichzeitig, und das ist die Aufgabe, die einer radikalen Linken zufällt, kann sie Ausgangspunkt für eine Kritik sein, die das falsche Ganze als Wahnsinn begreift.
Wir versuchen, eine organisierte Kritik an den Verhältnissen zu üben, die wir als bürgerliche Gesellschaft zu fassen versuchen, die den Faschismus nicht bezwingen konnte und deren Widersprüche die Bedingungen für sein Fortleben sind. Dabei vollzieht sich unsere Selbstbestimmung innerhalb der antifaschistischen und radikalen Bewegung in ihrer Kritik. Denn ein „Weiter So“, als Selbstbetrug gegen die eigene Ohnmacht, verstellt sich selber die Möglichkeit, in Bewegung zu kommen. Sie muss eine Reflexion des Ausbleibens der wirklichen Bewegung in sich aufnehmen, welche den falschen Zustand aufzuheben in der Lage gewesen wäre. Die praktische Antifa-Arbeit heute bestimmt sich außerdem konkret aus den veränderten und regional unterschiedlichen Anforderungen ihrer jeweiligen Umstände. So ist den „anderen Antifas aus Ostdeutschland“ beizupflichten oder den Antifas aus Westdeutschland ein vorheriges Studium ostdeutscher Antifageschichte ans Herz zu legen. Die Praxis muss sich aus den konkreten Auseinandersetzungen mit den jeweils vorfindlichen Bedingungen ergeben. Der Vollzug der Sache allerdings ist kein einmaliges Absolutes – keine immerwährende avantgardistische Organisation und deren Ideologie, noch eine einfach auswendig gelernte Theorie. Sie ist kein unerkennbar Fremdes, zu dem eine reine Erfahrungserkenntnis sie versucht zu machen, immer da, wo die kritische Auseinandersetzung dem Mitgefühligen und den Menschen verdinglichende Andersmachenden weichen muss. Dort findet das zur Partikularität verdammte Objekt seine zur Unkenntlichkeit verstellte Menschlichkeit nicht und bleibt das verzerrte Spiegelbild der eigenen Ohnmacht. Die Erfahrung des Scheiterns sollte gerade die Linke nicht verdrängen, um im Anschluss mit gestählter Ideologie und Kampfeskraft so laut zu schreien, in Mangel an Erkenntnis, dass das, was die Toten zu berichten hätten, kein Gehör findet. Das Scheitern an den Ansprüchen der Gesellschaft und ihrer realen Brutalität, ist, wovor sich alle fürchten sollten.
Doch eine Linke, die sich ihrer eigenen Kritik gegenüber verstellt, bleibt blind gegenüber der Wirklichkeit, die sie einst fast fähig war zu verändern. Die permanente Wiederholung, das „Weiter So“ gleicht dem Zwang des Neurotikers, welcher um das ursprünglich nicht aufgearbeitete, zum Symptom gewordene, sich im Zwangsritual ausdrückende Leiden am eigenen Leben und der eigenen Geschichte verdrängen will, welches sich über das Symptom dann doch immer wieder Bahn bricht. Das Leiden der Linken ist ihr Scheitern. Die Erfahrung der Deportationen und des Verrats müsse ein Teil der linken Kritik und Aufarbeitung sein. Voraussetzung, der Wiederholung zu entfliehen, wäre es, das fröhlich geformte Selbstbild aufzugeben, um in Anbetracht der Möglichkeit der Katastrophe das eigene Scheitern anerkennen und überwinden zu können. Auf der individuellen Ebene ist die erfahrene Gewalt – das Scheitern – kein Partikulares, doch sie droht unter dem Banner der Faschisten zur negativen Universalität zu gedeihen. Die Linke hätte zur Aufgabe, die organisierte Kritik an der Gewalt und ihren Voraussetzungen voranzubringen. Dabei darf die Kritik eben nicht außerhalb und absolut vor sich hergetragen werden. Sie ist kein einmalig gepackter Koffer voller Methoden und Welterklärungen. Sie ist eben kein positives Setzen bestimmter, schon in den Individuen innerhalb der Linken verwirklichter Werte und Privilegienkataloge. Durch die Kritik muss sich die radikale Linke zu einer organisierten Bewegung entfalten. Dabei ist die Kritik eine Stimme gegen das Leid, die schmerzhafte Erkenntnis vorausgesetzt, dass es noch viel zu ergründen gibt, wobei manches davon vielleicht auch etwas wirklich Neues werden kann. Die organisierte Kritik soll im Stande sein, das Schlimmere zu verhindern, und damit die Möglichkeit für eine Gesellschaft erhalten, in der sich Auschwitz nicht wiederholt und der Mensch kein geknechtetes Wesen mehr sei.