Redebeitrag zu Herschel Grynszpan

Gehalten auf der Gedenkkundgebung zum 09.11.2024

Die Juden Zindel und Rivka Grynszpan flohen 1911 vor den Pogromen im Zarenreich von Westrussland nach Hannover in Deutschland. Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Polens nach dem Ersten Weltkrieg nahm die Familie die polnische Staatsbürgerschaft an. Ihr Sohn Herschel wurde am 28. März 1921 geboren. Da in der Weimarer Republik das Abstammungsprinzip galt, wurde Grynszpan nie deutscher Staatsbürger. Im Jahr 1935 – mit 14 Jahren – verließ Herschel die Volksschule. Er besuchte dann eine Talmudschule in Frankfurt am Main und schloss sich der religiös-zionistischen Gruppierung Mizrachi an. Herschel brach die auf fünf Jahre ausgelegte Ausbildung jedoch nach elf Monaten ab und kehrte zu seinen Eltern nach Hannover zurück. Nachdem er sich einen polnischen Pass hatte ausstellen lassen, beantragte er bei den deutschen Behörden eine Wiedereinreisegenehmigung. Zur Begründung gab er an, bei einer Tante in Brüssel die Einreiseerlaubnis nach Palästina abwarten zu wollen, die ihm vorläufig verweigert worden sei. Im Sommer 1936 verließ Herschel Deutschland zunächst Richtung Brüssel, wo er bei seinem Onkel Wolf unterkam. Wenig später reiste er illegal nach Frankreich ein und zog dort zu seinem Onkel Abraham und seiner Tante Chawa nach Paris. Vergeblich bemühte er sich um eine französische Aufenthaltserlaubnis, im April 1937 lief seine Wiedereinreisegenehmigung nach Deutschland und im Februar 1938 sein polnischer Pass ab. Staatenlos und ohne legalen Aufenthalt befand sich der siebzehnjährige Herschel in einer bedrückenden Lage und musste sich ab dem 15. August 1938 vor der französischen Polizei verstecken. Bis zu dieser Frist hatte ihn das französische Innenministerium zur Ausreise aufgefordert.

Kurz nach dem Anschluss Österreichs verabschiedete das polnische Parlament am 31. März 1938 ein Gesetz, das die Möglichkeit vorsah, polnischen Staatsbürgern, die länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland lebten, die Staatsangehörigkeit zu entziehen. Polen versuchte mit diesem Gesetz möglichen Ausweisungen polnischer Juden aus dem Deutschen Reich zuvorzukommen. Dem Gesetz folgte am 9. Oktober 1938 eine Verordnung des polnischen Innenministeriums. Diese sah vor, dass ab 30. Oktober 1938 die Einreise nach Polen nur noch gestattet war, wenn im Ausland ausgestellte Pässe einen durch ein Konsulat ausgestellten Prüfvermerk enthielten. Auf Veranlassung Himmlers wies Heydrich am 26. Oktober, wenige Tage vor Inkrafttreten der Regelung, die Sicherheitspolizei an, alle polnischen Juden abzuschieben. Reichsweit wurden mindestens 17.000 polnische Juden verhaftet, enteignet und in Zügen Richtung Polen deportiert. Darunter die Familie Grynszpan. 1961 im Prozess gegen Adolf Eichmann sagt Herschels Vater aus. Die Aussage gibt Hanna Arendt wie folgt wieder:

„Am 27. Oktober 1938, es war am Donnerstagabend um 8 Uhr, kam ein Polizist zu uns und sagte, wir sollten zum Polizeirevier 11 kommen. Er sagte, ‚Sie werden gleich wieder nach Hause zurückkehren, nehmen Sie nichts weiter mit als Ihre Pässe.‘“ Grynszpan ging mit seiner Familie, einem Sohn, einer Tochter und seiner Frau, aufs Revier. Als sie dort ankamen, sah er, „viele Leute, manche standen und manche saßen, die Leute weinten, und [die Polizei] schrie auf sie ein: ‚Da, unterschreiben Sie! Unterschreiben! Unterschreiben!‘ …  Ich mußte unterschreiben, alle haben unterschrieben. Nur einer hat nicht unterschrieben; ich glaube, er hieß Gerschon Silber, und er mußte 24 Stunden in einer Ecke stehen und durfte sich nicht rühren. Dann wurden wir ins Konzerthaus geführt, am Leineufer, und dort wurden aus der ganzen Stadt Leute zusammengebracht, etwa 600 Menschen im ganzen … Dort blieben wir bis Freitag abend, etwa 24 Stunden, ja, bis Freitag abend… Und dann lud man uns auf Polizeiautos, auf Gefängniswagen, ungefähr zwanzig auf jeden Wagen, und transportierte uns zum Bahnhof. Die Straßen waren schwarz von Menschen, und sie schrien: ‚Juden raus nach Palästina!‘ … Wir wurden mit der Eisenbahn nach Neu-Bentschen transportiert, nach der polnischen Grenze. Als wir dort ankamen war es sechs Uhr morgens am Sabbath. Da kamen Züge aus allen möglichen Orten, aus Leipzig, Köln, Düsseldorf, Essen, Bielefeld, Bremen. Zusammen waren wir ungefähr 12.000 Menschen … Das war am Sabbath, am 29. Oktober … Als wir zur Grenze kamen, wurden wir durchsucht, ob jemand noch irgendwelches Geld hätte. Wer mehr als 10 Mark hatte, mußte den Rest abgeben. Dies war das deutsche Gesetz, man durfte nicht mehr als 10 Mark aus Deutschland ausführen. Die Deutschen sagten zu uns: ‚Ihr habt nicht mehr mitgebracht, als ihr gekommen seid, und mehr dürft ihr auch nicht mit herausnehmen.‘“. Sie mußten fast zwei Kilometer zu Fuß laufen, bis zur polnischen Grenze, denn die Deutschen beabsichtigten, sie auf polnisches Gebiet hinüberzuschmuggeln. „Die SS-Leute trieben uns mit Peitschen an, und denen, die nicht mitkamen, versetzen sie Peitschenhiebe, und Blut floß auf die Straße. Sie rissen uns unsere Koffer weg, sie behandelten uns auf die brutalste Weise, damals sah ich zum erstenmal die wilde Brutalität der Deutschen. Sie schrien uns an: ‚Lauft!, lauft!,‘, ich wurde auch geschlagen und fiel in einen Graben. Mein Sohn half mir auf und sagte zu mir: ‚Lauf schnell, Vater, sonst mußt du sterben!‘“

Am 3. November 1938 erhielt Herschel eine auf den 31. Oktober datierte Postkarte seiner Schwester aus Zbąszyn, in der sie ihm die Geschehnisse schilderte. Am 6. November 1938 verließ Herschel seinen Onkel und seine Tante. Er verbrachte die Nacht unter falschem Namen im Hotel Suez auf dem Boulevard de Strasbourg. Am nächsten Morgen kaufte Herschel einen Revolver und Munition im Waffengeschäft “A la fine lame”. Im Lokal “Tout va bien” lud er die Waffe und steckte sie in seine Jackentasche. Dann machte er sich auf den Weg zur deutschen Botschaft in die Rue de Lille 78. Gegen 9:30 Uhr betrat Herschel die Botschaft. Er gab an, ein wichtiges Dokument abzugeben zu haben und wurde in das Büro des Diplomaten Ernst vom Rath geführt. Herschel gab fünf Schüsse auf vom Rath ab, zwei davon verletzen diesen schwer. Herschel ließ sich widerstandslos von Botschaftsmitarbeitern festnehmen und wurde der französischen Polizei übergeben. Vom Rath starb zwei Tage später am 9. November gegen 16:30 Uhr im Krankenhaus.

Was folgte, ist bekannt. Die Nationalsozialisten hatten, was sie brauchten: einen willkommenen Anlass, die Verfolgung der Juden auf eine neue Stufe zu heben, von der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Diskriminierung hin zum offenen und körperlichen Angriff, der, schon zuvor in unzähligen Überfällen eingeübt, jetzt gesellschaftliche Dimension annahm. Das Attentat aber war in seiner Rezeption keinesfalls auf Deutschland beschränkt. Vielmehr wurde es international breit rezipiert und auch diskutiert. Auf Verständnis und Unterstützung brauchte Herschel abseits von antifaschistischen Kreisen nicht zu hoffen. Auch in den jüdischen Kreisen Frankreichs etwa war die Ablehnung seiner Tat groß. Man glaubte, dass Herschel mit der Tat schlimmere Repression über die jüdischen Gemeinden bringen würde. Und die folgenden Novemberprogrome schienen ihnen recht zu geben.

Damit aber befanden sie sich im Irrtum. Denn nicht Herschel brachte das Unglück mit sich. Seine Tat richtete sich gegen die Mörder und Menschenhetzer und machte die braven Menschen nicht erst zu diesen. Diese waren bereits versammelt, hatten sich innerlich schon an das Morden gewöhnt, dass es in der Folge noch auszuführen galt. Die Juden standen bereits mit dem Rücken an der Wand, an welcher man sie hinrichten wollte. Und dies nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt; niemand wollte ihnen helfen, niemand war bereit ihnen zur Seite zu springen und in dieser ausweglosen Lage fehlte ihnen auch selbst die Möglichkeit, sich geschlossen so zu organisieren, dass sie ihren Mördern etwas entgegenzusetzen hatten.

Herschels Motive sind heute weniger klar, als es mancher gerne hätte. Er selbst machte unterschiedliche Angaben über seine Motive, und auch dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Wir werden hier heute keinen Befund darüber anstellen, welche davon richtig und welche falsch sind. Aber was wir sagen können, ist dies: Herschel war isoliert und er blieb es; seine Tat fand keine Nachahmer, stattdessen etliche Richter mehr, als die, die ihn in den Tod schickten.

Dies ist nur allzu verständlich. Wenn alles schon zum Schlimmsten steht, will man nicht, dass es noch schlimmer kommt, wenn der Tod schon droht, soll er fern bleiben, so lange es geht. Aber: wenn das Todesurteil schon gefällt ist, dann besteht darin, dem Henker keinen Kummer zu bereiten, keine Hoffnung. Aus heutiger Sicht erscheint demgegenüber Herschels Tat als gerecht und vernünftig, als Tat aus einem starken Motiv, konsequent und weitsichtig. Und als solchen wollen wir sie heute stehenlassen: als antifaschistische Tat eines jungen Mannes, der verstand, was die Zukunft für ihn bereit halten würde, dem das Schicksal seiner Familie Herz und Seele zerriss und der einen von denen mit in den Tod nahm, die Auschwitz schon im Herzen trugen.


Leipzig, 09.11.2024

alea • antifaschistisch & autonom