Redebeitrag zum Erinnern und zur mangelnden Kenntnis des Antisemitismus
Gehalten auf der Gedenkkundgebung zum 09.11.2024
Wir sind heute hier zusammengekommen, weil heute sich zum 86. Mal die Pogromnacht der Nationalsozialisten jährt. Und wir sind am heutigen Tag bei weitem nicht die einzigen, die an das Novemberpogrom erinnern. Wahrscheinlich wird der Bundespräsident oder Bundeskanzler seine salbungsvollen Worte hören lassen und landauf-landab wird man sich zusammenfinden, um zu gedenken und zu erinnern. Und alle werden sicher auch zu der Mahnung anheben: Auch heute ist Antisemitismus wieder ein Problem.
Der Antisemitismus, so scheint es, ist etwas, worüber in der Gesellschaft eine weitreichende Ablehnung besteht. Nur wenige wagen es, sich offen einen Antisemiten zu nennen und Anklagen gegen den Antisemitismus hören wir landauf-landab. Und es ist sicherlich ein Erfolg der Erinnerungskultur, dass das Erinnern am 9. November ein gesellschaftlicher Stolperstein ist, ein Tag, an dem man schwerlich vorbeikommt, ohne zumindest einmal kurz an die Juden zu denken, und an ihre Häscher und Mörder, die Nationalsozialisten. Darin hat dieses Gedenken seine Qualität.
Aber darin liegt zugleich auch seine Schwäche: es ist zur Phrase geworden, zum Ritus, zu etwas, das immer leerer wird, je öfter man es wiederholt. Bedeutungsschwanger werden Schweigeminuten abgehalten, vielleicht wird sogar etwas Klezmer gespielt, als könne man hiermit zumindest für wenige Minuten jüdische Kultur zu sich zurückholen. Allein, dass man sie sich ohne jeden Gefallen anhört, wird zur eigenen guten Tat, nachdem man es geschafft hat, für eine Minute den Mund zu halten. Weiteres ist nicht zu tun: man hat gezeigt, dass man weiß, was die Verbrechen waren, man hat gezeigt, dass man weiß, wie schlimm es war, man hat gezeigt, dass man weiß, das Antisemitismus etwas Schlechtes ist.
Aber gerade im schlichten Aburteilen des Vergangenen liegt ein unbewältigtes Problem: mehr als das man weiß „Antisemitismus ist schlecht“, weiß man nicht. Man weiß nicht, was er ist und das ist kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem: allem Gedenken und Verurteilen zum Trotz nimmt das Wissen darüber, was Antisemitismus ist, nicht zu, sondern ab. Und immer mehr läuft es darauf hinaus, dass davon ausgegangen wird, Antisemitismus, dass sei eine Form der Diskriminierung, und weil man sich artig mit Diskriminierung befasst, kennt man ihn; er ist zugleich bloß eine Diskriminierungsform unter vielen. Viele Menschen werden in dieser Welt diskriminiert: die Frauen, die Ausländer, die Arbeitslosen, die Behinderten und so eben auch die Juden. Und zumindest der Teil der Gesellschaft, der sich den Humanismus noch nicht hat völlig austreiben lassen, hält daran fest: Diskriminierung ist etwas Schlechtes.
Aber der 9. November war kein Tag der gesteigerten Diskriminierung. Er war kein Tag, der schlimm war, weil man ihnen verbat, ihren Beruf auszuüben oder weil man ihnen verbat, weiter im Sportverein zu sein. Der Tag war nicht schlimm, weil man ihnen „Judensau, Judensau!“ hinterherrief; kein schlimmer Tag, weil man nach ihnen spuckte oder nach ihnen trat. Es war kein schlimmer Tag deswegen, weil man ihnen ein Schild mit Schmähungen umhängte und sie damit durch die Stadt trieb, weil jemand einen Juden ausraubte, durch die Straße jagte, um ihn anschließend totzuschlagen. Das alles war schon vorher der Fall gewesen. Das war der Alltag, oder besser gesagt: das ist nur ein Auszug all dessen, was bereits der Alltag war und was ihre späteren Mörder sich für sie ausgedacht hatten, um sie in der Gesellschaft zu isolieren, sie von den anderen zu scheiden, sie also zu diskriminieren. Aber all das war nicht das Schlimme. Das Schlimme war, dass um den 9. November herum es zu Ende war mit der bloßen Diskriminierung. Worum es jetzt ging war nicht mehr bloß Hohn, Spott, Ausgrenzung, Herabwürdigung oder körperliche Gewalt. Worum es seit dem 9. November ging, war: Die Vernichtung.
„Die Judenvernichtung“, dieser entsetzliche Begriff aber ist gänzlich abgeschliffen. Er löst keinen Schauder aus. Der in ihm aufbewahrte Schrecken ist verdunkelt. Man kann ihn benutzen, als verbürge sich dahinter bloß eine Zahl, eine große Zahl, eine Zahl, die bis heute in ihrer Dimension noch ausgehandelt wird, eine Zahl an Menschen, die ermordet wurden. Und wenn wir in die Welt schauen, dann sehen wir so viele Leichen, dass die Juden gar nicht mehr so ins Gewicht fallen. Und genau so ist es auch.
Denn sie fallen nicht mehr ins Gewicht, weil sie keines mehr haben. Denn ihnen wurde alles genommen. Nicht nur ihr Geld, nicht nur ihre Kleidung, nicht nur ihre Haare, ihre Zähne und ihre Leben nahm man ihnen. Selbst den Tod wollte man ihnen nicht mehr lassen. Als Leichen verließen sie nur noch die Gaskammern, ihre Leichen warf man in die Verbrennungsöfen und erst als Rauch lies man sie ziehen, man gab ihnen „ein Grab in den Lüften“, wie Paul Celan es später schreiben sollte. Denn nichts sollte von ihnen bleiben, was an sie erinnern könnte. Selbst die Asche wurde noch nach Knochenresten durchwühlt und diese dann zerkleinert. Die Asche warf man in Flüsse oder verstreute sie weitläufig. Es sollte nicht nur keine Juden mehr geben, es sollte so sein, als hätte es sie nie gegeben. Das war der Vernichtungsplan, den die Nazis verfolgten.
Wenn wir sagen, dass das Wissen über den Antisemitismus schwindet, dann meinen wir damit aber nicht bloß das Wissen von dem, was sich als anhaltende Drohung in ihm verbirgt, sondern dann meinen wir auch, dass vergessen wird, wie er funktioniert, wie er beschaffen ist, wie er sich entwickelt. Und es wäre zu wenig, hier bloß beim Lamenti stehen zu bleiben. Zugleich ist es ganz aussichtslos, ihn hier umfassend darzustellen. Wir wollen dieses Jahr deshalb einen Aspekt des Antisemitismus herausgreifen, von dem wir denken, dass er in der gegenwärtigen Zeit wichtig ist.
Denn die Nationalsozialisten sahen sich selbst nicht als die Bestien, die sie waren. Sie sahen sich als Heroen in einem Kampf Gut gegen Böse, sahen sich als integre Menschen, die hart und streng, aber gerecht waren, die ihre Familie liebten, die das Beste für ihre Kinder wollten. Und dieses Bild hatten sie von sich nicht davor, nicht bevor sie Millionen von Juden überall aus Europa fingen und in rasender Geschwindigkeit in ihre Vernichtungsapparatur brachten. Sie hatten dieses Bild von sich zu der Zeit, wo sie genau das taten, sie hatten dieses Bild von sich, weil sie es taten. Gerade in der Zeit davor hatten sie dieses Bild nicht von sich. Gerade in der Zeit davor litten sie an ihren inneren Widersprüchen, an ihrer inneren Zerrissenheit. Sie litten daran, dass das, was sie wollten, dass das, wie sie sein wollten, sich nicht realisierte. Sie wollten schon vor der Zeit des Nationalsozialismus gute und integre Menschen sein, aber sie waren es nicht. Denn: sie scheiterten an ihren Widersprüchen.
Damit waren sie nicht allein. Und damit sind sie bis heute nicht allein. Darin unterscheiden sie sich nicht von irgendjemand anderem. Die Welt ist voller Widersprüche und sie zwingt allen, die in ihr leben, diese Widersprüche auf, und zwar ungeachtet der Tatsache, ob wir das wollen oder nicht, ungeachtet der Tatsache, ob wir das verstehen oder nicht. Das, was aber die Nationalsozialisten ausmachte, und wodurch sie ihre Attraktivität für eine zunehmende Anzahl von Anhängern gewannen, war, dass sie zum einen diese Widersprüche greifbar machten, und zum anderen auch als veränderbar erklärten. Und dies taten sie, indem sie die gesellschaftlichen Widersprüche mit den Juden identifizierten. Sie erklärten die Juden als für die Widersprüche verantwortlich und eben damit für alles Schlechte in der Welt. Aber eben nicht nur in der Welt im Allgemeinen, sondern ebenso verantwortlich für das Schlechte in den Menschen selbst. Die negativen und destruktiven Impulse, die ausnahmslos jeder Mensch gegenüber den gesellschaftlichen Zwängen verspürt, wurden als von den Juden ausgelöst und verursacht betrachtet. Dass man selber schlecht war, das war die große Schuld, für die die Juden verantwortlich gemacht wurden. Die eigenen Widersprüche wurden damit aber nicht nur greifbar, sondern auch angreifbar. Der Kampf gegen die Juden wurde zu einem Kampf gegen die eigene Schlechtigkeit und in der Auslöschung der Juden, so dachten die Nationalsozialisten, wäre auch die Ursache für die eigene Schlechtigkeit ausgelöscht. Deswegen musste die Auslöschung so allumfassend sein, denn selbst ein einziger Jude konnte diese Macht ausüben, konnte durch sein geheimes Fädenziehen einen dazu bringen, wider der eigenen Art zu handeln. Und diese Art, dies war und ist bis heute die Vorstellung eines edlen und guten Menschen, der sich durch seine Makellosigkeit und Reinheit gegenüber dem Schlechten in der Welt auszeichnet. Und der Jude ist bis heute in der Vorstellung der Antisemiten verantwortlich für Unreinheit.
und Schmutz. Damit war auch der Grundstein gelegt dafür, sich nicht mehr mit der eigenen Widersprüchlichkeit und dem eigenen Mangel gegenüber dem Bild des guten Menschen abzugeben. Sobald die Schuld dafür externalisiert ist, ist man zwar selber noch nicht ein Deut besser, aber die Verantwortung für den eigenen Mangel ist man los. Er kann erst verschwinden, wenn die Schuldigen verschwinden. Und das ist der Grund, warum bis heute Faschisten aller Art sich mit ihrer eigenen Reudigkeit arrangieren können.
Es gibt wohl in der Gesellschaft keine Gruppe, in der der Widerstand dagegen, andere gesellschaftliche Gruppen für die Widersprüche und Probleme in der Welt verantwortlich zu machen, so hoch ist, wie in der radikalen Linken. Und das ist etwas, was sie sich immer noch hoch anrechnen kann, zumindest da, wo sie diesem Anspruch noch gerecht wird. Aber zum einen finden wir auch in der radikalen Linken anhaltende Versuche, Ansätze und Theorien, die genau dies doch wieder versuchen. Die versuchen, gesellschaftliche Widersprüche zu personalisieren, die verbreiten wollen, dass es doch bestimmte Personen oder Gruppen sind, die die gesellschaftlichen Widersprüche erzeugen. Zum anderen halten weite Teile der radikalen Linken am Gedanken der Reinheit fest, an dem Gedanken, dass es möglich wäre, die Widersprüche aus sich selbst irgendwie herauszubekommen, dass es möglich wäre, sich aus der eigenen Verstricktheit in den falschen Zustand zu befreien.
Ersteres ist daran zu sehen, dass die Möglichkeit der Veränderung immer stärker bestimmten gesellschaftlichen Gruppen zugeschrieben wird, während andererseits anderen gesellschaftlichen Gruppen die Schuld und Verantwortung am Zustand der Welt zugeschrieben wird. Kurz also: die Menschen eingeteilt werden in Löser und Verursacher der gesellschaftlichen Widersprüche.
Zweiteres zeigt sich darin, dass die Linke sich – genau wie der Rest der bürgerlichen Gesellschaft – immer weiter in moralischen Forderungen, also Forderungen nach dem richtigen und guten Verhalten verstrickt hat, anstatt zu versuchen, die Ursache für die gesellschaftlichen Probleme zu begreifen. Gesellschaftliche Probleme werden universell zu einem Problem der Diskriminierung erklärt und als solche dann versucht, durch Antidiskriminierung zu beheben.
Die Absichten dahinter mögen gut und verständlich sein. Aber gerade in der Aussichtslosigkeit liegt ihre Gefahr. Denn wenn alles nichts hilft – und machen wir uns nichts vor, es hilft alles nichts – dann wird sich am Ende eine Frage auftun, die Frage danach, wieso es nicht gelingt. Und wenn hier die Antwort nicht die Reflexion auf den falschen Zustand ist, dann wird es darauf hinauslaufen, dass irgendjemand Verantwortliches gesucht wird für das Scheitern des Versuches die gute Welt herbeizuführen. Und hierin liegt eine der Gefahren, die in jedem Einzelnen schlummert, am Ende selbst zu dem zu werden, den man heute noch bekämpft.
Politik im Allgemeinen verdichtet sich heute dazu, darum zu ringen, wer der wahre Schuldige an der aktuellen Misere ist. Der Schutz davor, dass dies zu einer faschistischen Gesellschaft führt, liegt darin, dass es niemanden gibt, der eine massentaugliche Vision davon entfalten kann, wer zur Verantwortung zu ziehen ist. Die Hemmung gegen die Gewalt ist noch zu groß. Aber die Kraft der bürgerlichen Gesellschaft zu einem Mindestmaß an innerer Friedfertigkeit ist dabei, zu erlöschen. Die gesellschaftliche Mitte tendiert mehr und mehr dazu, für die Lösung der Probleme die Hemmung vor der offenen Gewalt zu verlieren. Antifaschist:innen heute müssen sich also mit allem Nachdruck gegen diese Gewalt als Lösung für gesellschaftliche Widersprüche und Probleme stellen, insbesondere da, wo es schon zur offenen Gewalt kommt. Zugleich darf aber nicht der Fehler gemacht werden, zu denken, dass die Probleme von denen verursacht werden, die diese gewalttätigen Lösungen voranbringen wollen. Denn diese sind nicht einfach in eins zu setzen mit den Problemen, und sie erzeugen die Widersprüche nicht. Vielmehr sind sie der unreflektierte Ausdruck der Widersprüche. Antifaschist:innen müssen also vielmehr damit aufwarten, dass sie die gesellschaftlichen Widersprüche und Probleme erfassen und in der Folge auch erklären können.
Noch immer wird in den Ruinen der Vernichtungslager nach kleinsten Spuren und Resten der europäischen Juden geschart. Durch die akribische Rekonstruktion der Historiker:innen, die alle Unterlagen zusammentragen, die sie finden können, wird versucht, die vernichteten Juden aus der Luft zurückzuholen und ihnen eine Repräsentation anstelle ihrer zu Staub verbrannten Leiber zukommen zu lassen. Es ist einer der verzweifelten Versuche, die Wunde, die der Nationalsozialismus mit seinem Vernichtungsplan riss, zu heilen. Aber eine Heilung dieser Wunde gibt es nicht. Dies zu begreifen, dass wir heute weniger Mensch sind als davor, wir nicht die Menschen werden können, die wir gerne werden würden, dass die Vernichtung auch dem Humanismus überhaupt eine tödliche Wunde zugefügt hat, lässt den Ermordeten mehr Gerechtigkeit zukommen, als so zu tun, als wäre man den Toten eine gute Gesellschaft und ein wahrer Freund.